Tausche Wissen gegen Zeit

Foto: Fotolia/drubig-photo
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Hinter freiwilligem sozialen Engagement, Corporate Social Responsibility oder Corporate Volunteering stehen Menschen, die sich engagieren – der karriereführer stellt sie vor. Aufgezeichnet von Stefan Trees

Murat Vural, Foto: Chancenwerk e.V.Murat Vural,
37 Jahre, Elektro-Ingenieur
Projekt: Chancenwerk e. V.
Ort: deutschlandweit
Web: www.chancenwerk.org

Im Chancenwerk e. V. helfen Studenten älteren Schülern bei schulischen Problemen, die wiederum jüngeren Schülern der eigenen Schule Nachhilfe geben. Lernkaskade nennt das Gründer und geschäftsführender Vorsitzender Murat Vural, der für sein soziales Bildungsprojekt 2009 als „Bürger des Ruhrgebiets“ und 2010 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet wurde.

Wie alles begann
Als Kind konnte ich nicht besonders gut Deutsch sprechen – ich habe keinen Kindergarten besucht, und zu Hause sprachen meine Eltern Türkisch mit mir. So habe ich in der Grundschule die Mathematik für mich entdeckt. Mit elf Jahren ging ich mit meinen Eltern in die Türkei und besuchte eine naturwissenschaftliche Schule. Mit 14 Jahren wusste ich, dass ich Ingenieur werden wollte. Zwei Jahre später kehrte ich nach Deutschland zurück und wurde wegen meiner schlechten Deutschkenntnisse auf die Hauptschule geschickt. Dort begann mein Abenteuer, trotzdem Ingenieur zu werden. Nach 18 Monaten habe ich dort einen der besten Abschlüsse gemacht und wechselte auf das Gymnasium. Nur wenige Lehrer hier haben an mich und meinen Traum vom Ingenieurtitel geglaubt. Ich habe es trotzdem geschafft, 1996 mit meinem Studium der Elektrotechnik begonnen und es 2002 abgeschlossen.

Warum ich das mache
Diese Erfahrung hat mich bewogen, 2004 als Doktorand zusammen mit Kommilitonen und meiner Schwester das Chancenwerk, zunächst als „Interkultureller Bildungs- und Förderverein für Schüler und Studenten e. V.“, zu gründen. Zu Beginn waren wir ein Migrantenprojekt – Migranten helfen Migranten –, doch schon nach einem Jahr haben wir unser Angebot allen Kindern mit Bedarf an Bildungsunterstützung zugänglich gemacht. Seitdem sind wir ein soziales Bildungsprojekt. Zwei Jahre später wurde der Verein von Ashoka in das weltweite Netzwerk führender Social Entrepreneurs aufgenommen. Als Ashoka-Fellow wurde ich von Unternehmensberatern und Anwälten pro bono unterstützt. So wurden wir immer professioneller.

Das Besondere an Chancenwerk ist die von uns entwickelte Lernkaskade: Ein Student unterstützt bis zu sechs ältere Schüler in einem Problemfach, als Gegenleistung helfen die Älteren jeweils zwei jüngeren Mitschülern bei schulischen Aufgaben. Für die älteren Schüler ist die Unterstützung kostenlos, allerdings bekommen sie auch für ihre Nachhilfe kein Geld. Das Tauschmittel sind Wissen und Zeit – nicht Geld. Das kommt gut an bei den Jugendlichen, weil sie wertgeschätzt und für ihr Engagement anerkannt werden. Die jüngeren zahlen für die erhaltene Nachhilfe eine geringe Summe, mit der die Studenten bezahlt werden können. Dabei nutzen wir die bestehende Infrastruktur, das heißt, wir kooperieren ausschließlich mit Schulen, in deren Räumlichkeiten wir unterrichten, sobald die Schule geschlossen ist.

Was es bislang gebracht hat
Meine Ingenieurtätigkeit macht mir unglaublich viel Spaß, aber ich glaube nicht, dass ich in Zukunft als Ingenieur aktiv sein werde. Ich habe meine Berufung mit Chancenwerk gefunden, und wir sind sehr erfolgreich damit: Wir haben über 210 Studenten, acht Vollzeitbeschäftigte, sind bundesweit in 16 Städten an 33 Kooperationsschulen aktiv und erreichen mit unserer Arbeit 1800 Kinder und Jugendliche.

Das Wichtigste an Chancenwerk ist allerdings nicht die Idee, sondern die Umsetzung. Wir sind sehr hartnäckig drangeblieben, obwohl viele Schulen zu Anfang nicht an das Projekt geglaubt haben. Wir optimieren operativ alles, bis es klappt: Wir schreiben Handbücher für neue Schulen und neue Mitarbeiter und erarbeiten Prozessbeschreibungen, damit neue Lehrer einer Schule nicht die gleichen Fehler machen müssen, die wir bereits vor zehn Jahren gemacht haben. Die Idee ist also sehr einfach, die Umsetzung dagegen etwas Besonderes. Das Projekt hat nach oben keine Grenzen und kann an allen Schulen, die es wollen, umgesetzt werden, auch im Ausland. In Österreich gab es bereits ein Pilotprojekt in sechs Schulen, wir haben Anfragen aus der Türkei und der Schweiz und von weiteren Schulen in Österreich. Ich sage gerne: Wir bereiten uns für eine große Expansion vor, und diese Vorbereitung hat zehn Jahre gedauert.