„Führen ist ein Abenteuer und meistens anstrengend“

Interview mit Prof. Dr. Annelie Keil

Annelie Keil, Foto: Julia Baier
Annelie Keil, Foto: Julia Baier

Prof. Dr. Annelie Keil kennt das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Als hoch dekorierte Wissenschaftlerin hat sie sich in Männerdomänen behauptet und durch ihre eigene Krankheitsgeschichte erfahren, welche überraschenden Wendungen das Leben bereithalten kann. Ambitionierten Frauen rät sie, bis in die Kindheit zurückzublicken und ein Entwederoder-Denken zu vermeiden. Das Interview führte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. Annelie Keil, geboren 1939, studierte in Hamburg Soziologie und Politikwissenschaft. 1968 promovierte sie, arbeitete zunächst als akademische Rätin in Göttingen und wurde 1971 an die neu gegründete Uni Bremen berufen, wo sie eine Professur für Sozial- und Gesundheitswissenschaften antrat. Nach schweren Erkrankungen fokussierte sich die spätere Dekanin auf den Bereich Gesundheitswissenschaft und Krankenforschung in Biografie und Lebenswelt. Annelie Keil ist Autorin diverser Bücher und war Expertin in der NDR-Fernsehsendung „Gesundheitswerkstatt“. Sie engagiert sich in der Hospiz-Bewegung und erhielt 2004 das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihre ehrenamtliche Arbeit in den Bereichen Bildung, Jugend und Gesundheit.
www.anneliekeil.de

Frau Professor Keil, wenn Sie an das Thema Frauen und Führung denken, welcher Aspekt kommt Ihnen in der Diskussion zu kurz?
Eindeutig ist dies die Frage, welche Erfahrung ich selber als Frau im Verlauf meines bisherigen Lebens auf den unterschiedlichen Ebenen mit dem Verhältnis von Führung und Geführtwerden gemacht habe. Menschen werden lebenslang und an allen Orten geführt. Das beginnt beim Blick auf die Eltern, Großeltern und Familienclans, setzt sich in Kindergarten und Schule fort, spielt in Ausbildung, Beruf und Partnerschaft eine große Rolle. Erfahrungen mit Führung hat also jeder. Wichtig ist, zu reflektieren: Was hat gefallen, was ist schwergefallen und vor allem: Welche Rolle hat mir warum gefallen, was kann ich besser?

Warum ist die Reflexion über die eigenen Erfahrungen mit Führung gerade für Frauen so wichtig?
Auch Männer sollten sich diese Fragen stellen, doch für sie brennen sie nicht so unter den Nägeln, weil es eine Vielzahl von Führungsstrukturen gibt, die für Männer gemacht wurden, in die sie einfach einsteigen und die sie für sich nutzen können. Für Frauen gibt es das in vielen Bereichen nicht, weil sie trotz guter Qualifikationen und Eignung viel weniger als gesellschaftliche, politische oder ökonomische Führungskraft vorgesehen waren. Männer werden von Kindesbeinen an in der Erarbeitung eines Führungsstils gefördert. Frauen werden in solchen Fragen eher alleine gelassen. Sie müssen sich ihre persönliche Idee und Balance von Führung und Geführtwerden erst einmal aneignen – und das ist angesichts der Rollenbilder nicht immer einfach.

Wie war das bei Ihnen persönlich?
Als ich 1971 frisch aus der Studentenbewegung an die Uni kam, fiel es mir sehr schwer, meine neue Rolle als Führungskraft zu begreifen. Ich war kurz vorher noch Studentin und Doktorandin gewesen und musste von einem Tag auf den anderen die Führungsposition einer Hochschullehrerin einnehmen. Von dem Wunsch beseelt, eine neue Universität mitzugründen, in der die Studierenden eine wichtige Mitbestimmungsrolle übernehmen sollten, hieß das für mich: möglichst viel Beteiligung aller Gruppen, Verzicht auf autoritäre Verhaltensweisen, Geschlechtergleichheit, kritischer Dialog. Aber wie gehe ich konkret damit um, wenn Studierende zum Beispiel permanent zu spät ins Seminar kommen oder keine Arbeiten übernehmen? Wenn Kollegen kaum teamfähig sind und Konkurrenz wichtiger ist als Austausch? Führen ist ein Abenteuer und meistens anstrengend. Ein Problem ist ja eben, dass viele Aufgaben innerhalb eines gegebenen Rahmens unangenehm sind. Man muss Menschen zu etwas bewegen. Muss sie motivieren.

Ein Lehr- und Lernfilm über Annelie Keil
Geht doch! Wie wir werden, wer wir sind und nicht bleiben. Biografische Antworten auf Fragen des Lebens. Ein Film von Heide Nullmeyer und Ronald Wedekind, Oktober 2013. Filmlänge: 66 Minuten. 16 Euro. Die DVD kann bestellt werden unter
www.anneliekeil.de/dvd.

Sie waren zeitweise unter zwölf Dekanen an der Uni die einzige Frau. Wie haben Sie das empfunden?
Na ja, das ambivalente Bild, das männliche Kollegen von einer intellektuellen Karrierefrau haben, trat auch mir entgegen. Das ist kein grundsätzlich diffamierendes Bild, aber das Grundgefühl in vielen Unternehmen oder auch Universitäten ist schon sehr häufig: „Jetzt führt mich eine Frau – das könnte ich als Mann doch viel besser.“ Eine Frau, die in einer Männerdomäne führt, muss über zwei Dinge nachdenken: Erstens, welches Problem die Männer mit ihr als weiblicher Führungskraft haben könnten. Zweitens, wie sehr ist der Erfolg eines Projekts davon abhängig, dass das Team an einem Strang zieht und sich darüber unter ihrer Leitung auch austauschen kann. Und hier haben Frauen einen Vorteil.

In welcher Hinsicht?
Sie sind aus ihren eigenen Erfahrungen heraus häufig besser in der Lage zu erkennen, dass derjenige im Team, der zu Beginn eines Prozesses nicht gleich für sie und ihre Ideen und Pläne ist, nicht ihr persönlicher Gegner oder Konkurrent um die Führung sein muss. Dass sie ihn überzeugen können und müssen, damit Führung auch durch Kooperation und Austausch gelingen kann. Männer verfolgen eher die Strategie: „Wer mir bedingungslos folgt, hat schon gewonnen.“ Frauen sind, wenn sie es denn wollen, grundsätzlich eher in der Lage, im Verlauf der Führung immer wieder innezuhalten, um zu überprüfen: Wie erfahren und erleben mich die anderen? Welche innere Stimme führt mich selbst?

Was tun, wenn es zu einer Niederlage kommt, die Karriere einen Bruch erlebt?
Das ist ein wichtiger Punkt, denn dass Karriere und die Weiterentwicklung des Führungsanspruchs ein linearer Weg sind, ist Ausdruck eines männlichen Denkprinzips, das auch viele Frauen praktizieren: Auf A folgt B, auf B folgt C. Richtig oder falsch, gut oder böse. Ein Entweder-oder-Denken, streng nach Plan. Die Lebensrealität zeigt uns jedoch: Das stimmt so nicht. Wir leben auf brüchigem Boden, und auf dem müssen wir Land gewinnen. Das gelingt nur, indem wir anerkennen, dass das Leben unberechenbar ist und sich immer über Unvorhergesehenes mit Fragen ins Spiel bringt.

Ein wichtiger Bruch für viele Frauen, die Karriere machen möchten, ist die Gründung einer Familie. Wie bringt man das in Einklang?
Ein konfliktfreier Einklang ist nicht möglich, denn der berufliche Werdegang und die Familie besitzen unterschiedliche Rhythmen und Herausforderungen. Wer sich beide Ziele setzt, also Karriere und Familie, der muss damit rechnen, dass diese zwei Rhythmen fortan das Leben bestimmen – und dass sie logischerweise einiges durcheinanderbringen werden. Trotz aller schönen Angebote zur Work-Life- Balance in den Unternehmen ist es ein Trugschluss, davon auszugehen, Karriere und Familie gleichzeitig vollständig gerecht zu werden. Frauen, die beides kombinieren, fahren immer zweigleisig. Die Züge rasen zwar nicht aufeinander zu – aber doch mit einem anderen Tempo und häufig genug in verschiedene Richtungen. Frauen, und letztlich auch Männer, stehen daher vor der schweren, aber lösbaren Aufgabe, sich immer wieder neu die Frage zu stellen: Was will ich wirklich? Was will mein Partner, was will mein Unternehmen? Was fällt leichter, als ich dachte, was ist schwerer, als ich es mir vorstellen konnte? Nur so kann ein Mensch Fehler korrigieren, vermeiden oder wenigstens nicht permanent wiederholen.