KI-Pionier Chris Boos im Interview

Chris Boos, Foto: Arago
Chris Boos, Foto: Arago

Chris Boos ist ein Hidden Champion des digitalen Zeitalters. Die von seiner Firma Arago entwickelte Künstliche Intelligenz-Plattform Hiro setzt Maßstäbe. Immer mehr Unternehmen nutzen diese Technik, um Prozesse zu automatisieren und dadurch zu optimieren. Im Gespräch erweist sich Boos als Schnell- und Querdenker. 80 Prozent aller Jobs fallen weg? Kein Grund zur Sorge: Optimistisch blickt er auf eine Welt, in der Menschen nicht mehr Maschinen nacheifern, sondern sinnvoll tätig werden und sich auf die menschlichen Aspekte der Arbeit fokussieren. Die Fragen stellte André Boße

Zur Person

Hans-Christian Boos – Rufname: Chris – schrieb seine ersten Computerprogramme mit acht Jahren. In der Schule galt er als Nerd, seine Eltern hatten große Mühe, ihn vom Computerbildschirm fernzuhalten. Bereits mit Anfang 20 gründete der Frankfurter 1995 gemeinsam mit seinem Onkel das Unternehmen Arago. Bis zum ersten kommerziellen Produkt, der Plattform Hiro, vergingen 18 Jahre. Von Beginn an ging es Boos darum, eine künstliche Intelligenz zu entwickeln, die seinen Kunden dabei hilft, Probleme zu lösen, indem sie Prozesse automatisiert und optimiert.

Herr Boos, Sie entwickeln mit Hiro eine künstliche Intelligenz (KI). Wie geht es der Maschine heute?

In der Regel geht es ihr super. Derzeit löst Hiro gut 84 Prozent aller Aufgaben, die wir ihr stellen, autonom, also ohne, dass sie eine Nachfrage stellen muss. Und das, obwohl wir sie an jedem Tag mit neuen Aufgaben konfrontieren und Hiro immer wieder etwas Neues lernt. Da sind 84 Prozent ziemlich gut.

Gelernt hat Hiro zum Beispiel das Spiel „Freeciv“, ein sehr komplexes Computerspiel, bei dem es auf die perfekte Strategie ankommt und es sehr viele Auswahlmöglichkeiten gibt. Ist Hiro hier noch schlagbar?

Nein. Unsere Maschine hat die weltweit besten Spieler geschlagen. Und sie wird ja immer noch besser. Hat sie einmal die besten menschlichen Spieler besiegt, wäre es komisch, wenn sie plötzlich wieder verlieren würde.

Zuletzt beim Spiel „Go“ und auch jetzt wieder bei „Freeciv“ hieß es lange: Hier werden Maschinen die besten menschlichen Spieler nicht schlagen können, weil bestimmte Qualitäten für die KI nicht zu erlernen seien. Und dann klappt es doch. 

In der Woche, in der wir angekündigt haben, dass es Hiro mit den besten „Freeciv“-Spielern aufnehmen will, wurde ein Papier veröffentlicht, in dem es hieß, dass es in den nächsten fünf Jahren nicht möglich sei, dass in diesem Spiel eine Maschine gegen einen menschlichen Experten gewinnt. Ein paar Monate später ist uns das gelungen. Wenn Sie also hören, dass es für eine KI unmöglich sei, diese oder jene Aufgabe zu lösen, dann dürfen Sie davon ausgehen, dass das innerhalb des nächsten halben Jahres doch passiert.

Machen Sie uns Menschen mal Mut: Was werden wir auf Ewigkeiten besser können?

Wir Menschen sollten uns nicht kleiner machen, als wir sind. Es gibt natürlich Bereiche, in denen wir den Maschinen wohl immer überlegen sein werden. Dazu zählt aber eben nicht die Kernkompetenz der KI, nämlich einen Prozess, den sie bereits verstanden hat, weiter zu optimieren. Hier ist die KI unschlagbar. Dafür hat eine Maschine nichts Kreatives an sich. Zur Kreativität gehört nämlich eine gewisse Voreingenommenheit. Doch genau diese versuchen wir der Maschine ja auszutreiben. Die KI wird daher nie ein Künstler sein, auch kein Pionier oder Erfinder. Klar, es gibt Maschinen, die Bilder wie Rembrandt zeichnen können. Aber das können sie nur, weil es vorher Rembrandt gegeben hat, den die Maschine jetzt halt nachmacht. Selbst einen Stil entwickeln oder den Kubismus erfinden – das kann die KI nicht.

Das perfekte Team besteht also aus einem kreativen und erfinderischen Menschen sowie einer KI, die von dem Menschen lernt und das Gelernte optimiert?

Da kommen wir jetzt hin, ja. Hier kommen wir zum spannenden Punkt, welche Karrieren es in einer Wirtschaft geben wird, in der die KI zur Normalität gehört. Ich glaube, dass es in Zukunft zwei große Job-Gruppen geben wird. Die erste wird aus den Leuten bestehen, die tatsächlich etwas kreieren – hier sind also die Erfinder, Pioniere und Künstler tätig, die etwas können, was eine Maschine nicht lernen kann. Wobei der Erfinder hier in der Regel der Ingenieur ist, der eine neue Technik entwickelt, während der Pionier diese neue Technik wie ein Werkzeug nutzt, um Neuland zu betreten – und damit ein gewisses Risiko eingeht. In der zweiten Gruppe sind die Leute tätig, die einen Dienst von Mensch zu Mensch anbieten. Diese Dienste kann eine KI zwar auch lernen, es ist natürlich möglich, einem Roboter das Kellnern beizubringen. Es ist schön, wenn ein solcher das Essen bringt. Es ist aber schöner, wenn ein Mensch an den Tisch kommt.

Wir werden zum Studium Generale zurückkommen, daran geht kein Weg vorbei.

Sie forderten eben, die Menschen müssten selbstbewusster sein. Gilt das auch mit Blick auf die Jobs der Zukunft?

Ganz sicher. Schauen wir noch einmal auf die Pioniere: Ein gutes Beispiel für einen solchen war Alexander von Humboldt, der auf seinen Forschungsreisen sein Leben riskierte, aber mit seiner Arbeit der Gesellschaft die Grundzüge der Geografie geschenkt hat. Das war sein Beitrag. Die Pioniere heute langweilen sich dagegen so sehr, dass sie auf die Idee kommen, aus Satelliten zu springen – Nutzen für die Menschheit: gegen Null. Der Pionier wird zum Action-Helden degradiert, er genießt viel zu wenig Wertschätzung in dieser Gesellschaft. Nehmen wir die Arbeit von einem medizinischen Pionier wie Robert Koch: Heute sind nach ihm Institute benannt. Aber würde heute einer das wagen, was er damals gewagt hat: Dieser Typ würde wohl eingesperrt werden.

Neben den Pionieren haben es auch die künstlichen Intelligenzen schwer. Immer wieder kommen Befürchtungen auf, die Maschinen könnten außer Kontrolle geraten. Ist das Science-Fiction oder ein wirkliches Problem?

Diese Angst, dass sich die künstliche Intelligenz gegen uns Menschen richtet, ist derzeit vollkommen unbegründet. Wir sind noch sehr weit davon entfernt, dass eine Maschine eine Art von Individualität entwickelt und ihre eigenen Entscheidungen trifft. Die KI basiert darauf, dass es uns nach und nach gelingt, das menschliche Gehirn abzubilden. Diese Arbeit ist sehr kompliziert, aber wir werden immer besser. Wenn es aber um das Wesen des menschlichen Ichs geht, stochern selbst die Psychologen bis heute im Nebel. Kein Mensch will eine Ich- Maschine bauen, eine Maschine, die dem Menschen ebenbürtig ist. Warum sollten wir das auch tun? Es geht darum, Maschinen zu entwickeln, die uns Arbeit abnehmen, damit wir Menschen Zeit für andere Dinge haben.

Wie viele Jobs fallen denn dann weg?

80 Prozent.

Ist das nicht ein riesiges Problem?

Vor 150 Jahren haben noch 85 Prozent der Leute in der Landwirtschaft gearbeitet, die konnten sich damals auch nicht vorstellen, dass 100 Jahre später fast alle Arbeiter in Büros hocken, statt auf den Feldern zu schuften. Das Problem liegt darin, dass wir mit Beginn der Industrialisierung versucht haben, die Menschen so anzuleiten, dass sie möglichst wie Maschinen arbeiten. Nun müssen wir uns erstens nicht wundern, dass es jetzt Maschinen gibt, die das noch besser können. Zweitens glaube ich, dass es für uns Menschen eine gute Geschichte ist, wenn wir nun dieses maschinelle Arbeiten tatsächlich den Maschinen überlassen.

Dennoch entstehen natürlich Ängste, wenn künftig acht von zehn Jobs wegfallen. 

Diese Angst ist komplett unnötig und unbegründet. Sie wäre nur dann gerechtfertigt, wenn man den Eindruck hätte, dass es danach nichts Anderes zu tun gäbe. Aber haben Sie den Eindruck, dass auf dieser Erde alles sehr gut von alleine läuft, dass die Tatkräftigkeit und Intelligenz der Menschen nicht mehr benötigt wird? Derzeit gelingt es uns gerade, das System am Laufen zu halten – jedoch auf so schlechte Art und Weise, dass wir dabei den Planeten zerstören. Ganz ehrlich: Das geht doch besser! Also klagen wir nicht über Jobs, die zwar wegfallen, die uns aber gar nicht gerecht werden, sondern entwickeln wir lieber neue.

Skeptiker entgegen: Wer soll diese neuen Jobs bezahlen, wenn sie nicht an die übliche Wertschöpfung der Industrie angebunden sind?

Wir haben in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von alternativen Modellen entwickelt, neue Geschäftsmodelle, eine neue Energieversorgung – warum soll uns das hier nicht auch gelingen? Skeptiker wird es immer geben, weil wir hier über die Zukunft reden. Ich habe keine Glaskugel. Wenn mich jemand fragt, sagen Sie doch mal konkret, wie diese Jobs von morgen aussehen und wie sie bezahlt werden, dann muss ich passen. Denn: Das weiß ich nicht – es gibt sie ja noch nicht.

Und das schreckt Sie als Pionier nicht ab?

Nein, schon alleine deswegen, weil es eben einem Landwirt vor 150 Jahren nicht möglich gewesen wäre, sich vorzustellen, wie heute ein vernetzter Computerarbeitsplatz aussieht und wie diese Arbeit bezahlt werden soll. Woher hätte er das damals wissen sollen? Damals gab es in jeder Stadt einen einzigen Stadtschreiber. Optimistisch bin ich aus einem weiteren Grund: Seit Beginn der Industrialisierung war es so, dass die großen Unternehmen nach Effizienz gestrebt haben – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Arbeitsplätze wurden gestrichen, Menschen hatten keine Jobs mehr und mussten sich zwangsläufig neu orientieren. Das war schmerzhaft.

Also klagen wir nicht über Jobs, die zwar wegfallen, die uns aber gar nicht gerecht werden, sondern entwickeln wir lieber neue.

Warum wird das heute weniger schmerzhaft sein?

Früher holte sich der Fabrikant eine Dampfmaschine und produzierte. Wenn sich ein Unternehmen heute eine KI ins Haus holt – und das ist aus Effizienzgründen so wichtig wie damals die Dampfmaschine –, dann kann es diese nicht einfach laufen lassen. Das Unternehmen muss immer weiter investieren, in Softwareprodukte und Dienstleistungen, um das System tatsächlich zu nutzen. Die neuen Jobs für Erfinder, Pioniere und Dienstleister entstehen also parallel. Und das ist historisch ein bislang einmaliger Glücksfall. Schauen Sie auf die Services: Viele Jahre wollten die Unternehmen in diesem Bereich Kosten sparen, jetzt brauchen sie diese Services, um oben dabei zu bleiben. Die Dienstleistung macht den Unterschied – wohlgemerkt, die menschliche Dienstleistung.

Wird das Talent, einen guten Service zu leisten, zum Karrieremotor?

Auf jeden Fall, es wird in einigen Bereichen sogar der Qualität den Rang ablaufen. Meine Prognose ist, dass in einigen Jahren eine Krankenschwester besser bezahlt werden wird als manch ein Arzt. Es kommt dadurch zu einem Paradigmenwechsel in der Bildung. Bislang galt es als effizient, die Arbeitskräfte von morgen immer weiter zu spezialisieren. In Zukunft ist das jedoch nicht mehr sinnvoll, denn Maschinen sind die besseren Spezialisten, die aus einem Prozess das letzte Tröpfchen Effizienz herausbringen. Daher wird es einen Trend weg von der Spezialisierung hin zu einer sehr viel breiteren Bildung geben.

Eine Renaissance der Universalbildung?

Ganz genau. Nehmen wir doch mal an, wir beide wären Erfinder oder Pioniere. Was brauchen wir, um erfolgreich zu sein? Mathematisches, physikalisches und technisches Verständnis, klar. Aber das alleine reicht nicht aus. Wir müssen auch wissen, wie die Gesellschaft funktioniert und was für Bedürfnisse sie entwickelt. Wir müssen uns auch der Werte bewusst sein, die unsere Gesellschaft zusammenhält, denn wenn unsere Erfindung oder Pionierleistung diese Ethik zerstört, dann richtet sie Schaden an. Und wir müssen uns auch Gedanken um juristische Aspekte machen, um zum Beispiel das Thema Haftung im Blick zu haben. Sie sehen schon: Wir werden zum Studium Generale zurückkommen, daran geht kein Weg vorbei. Derzeit ist es so, dass der ökonomische Wert von naturwissenschaftlicher Bildung deutlich höher ist als der Wert von geisteswissenschaftlicher Bildung.

Zum Beispiel bekommt ein junger Ingenieur in der Regel ein größeres Einstiegsgehalt als ein Lehramtseinsteiger.

Genau. Das ist paradox, denn wenn wir uns den gesellschaftlichen Wert anschauen, liegt die geisteswissenschaftliche Bildung vor der naturwissenschaftlichen.

Woran machen Sie das fest?

Dafür gibt es einige Indikatoren. Ich stelle mal folgende Vermutung auf: Wenn mehr Menschen Geschichtsbücher genau studieren würden, wären wir politisch und gesellschaftlich nicht in der diffizilen Lage, in der wir uns aktuell befinden. In der Historie steckt die Zukunft. Und wenn ein Gast in einer Talkshow sagt, er sei vollkommen unbrauchbar in Mathematik, bekommt er Applaus, denn das ist gesellschaftlich akzeptabel. Sagt er hingegen, er wisse nicht, wer Goethe und Schiller waren, hält ihn jeder für einen Deppen. Und zwar zu Recht. Wobei mehr denn je wichtig ist, dass die Menschen beides kennen. Nicht jeder muss die tiefe Mathematik verstehen, nicht jeder muss Goethes Faust bis ins letzte Detail durchdrungen haben, aber jeder sollte wissen, was es mit diesen Dingen auf sich hat.

Zum Unternehmen

Nach 18 Jahren Entwicklungsarbeit präsentierte das Unternehmen 2013 die KI-Plattform Hiro, mit Hilfe eines etablierten US-Investors platzierte die Firma ihr Produkt am Markt und wurde schnell zu einem Pionier im Bereich der künstlichen Intelligenz mit Firmensitzen in Frankfurt am Main, New York, Exeter und Pune. Auf der Homepage präsentiert Arago in Echtzeit die Leistungsdaten von Hiro, unter anderem die Quote an Aufgaben, die diese Plattform autonom lösen kann sowie die Zahl der Objekte, die Hiro eingelesen hat und mit deren Hilfe die KI ihr Arbeitsumfeld erkennt und interpretiert.
www.arago.co