Wirtschaftswandel zu mehr Komplexität

Interview mit Prof. Dr. Fredmund Malik

Wirtschaftswandel, Foto: Manuela Theobald
Foto: Manuela Theobald

Fredmund Malik zählt zu den profiliertesten Wirtschaftswissenschaftlern Europas. Schon 1997 schrieb er erstmals von der „Großen Transformation21“, einem allumfassenden und rasanten Wandel der Wirtschaft, der zu mehr Komplexität führt. Was das für Manager bedeutet und wie sich der Nachwuchs dafür rüsten kann, erklärt er im Interview. Das Gespräch führte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. Fredmund Malik, geboren 1944 in Österreich, ist habilitierter Professor für Unternehmensführung, Special und Honorary Professor an drei chinesischen Universitäten sowie international ausgezeichneter Managementexperte. Seine Denkfabrik für ganzheitliche system-kybernetische Managementsysteme mit Sitz in St. Gallen ist weltweit führend. Malik gehört zu den profiliertesten Managementvordenkern und ist Bestsellerautor von mehr als zehn Büchern. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst sowie den Heinz von Foerster-Preis für Organisationskybernetik.

Herr Prof. Malik, Sie sprechen von der Großen Transformation21 als einer Umwandlung, wie sie nur alle rund 200 Jahre vorkommt. Woran machen Sie fest, dass wir gerade Wirtschaftsgeschichte schreiben?
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird derzeit weit mehr als nur Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Die Große Transformation21 führt von der Alten Welt, wie wir sie kannten, zu einer grundlegend Neuen Welt.

Was sind die stärksten Antreiber dieses Wandels?
Zu den stärksten Triebkräften zählen die Demografie, die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie – insbesondere der Informatik und der Biowissenschaften –, die Ökologie mit ihren kaum überblickbaren Risiken und schließlich die Ökonomie – und hier vor allem die historisch größte globale Verschuldung so gut wie aller Wirtschaftssektoren. Zusammen erzeugen diese Treiber eine exponentiell wachsende Komplexität, mit der die meisten Organisationen noch gar nicht umgehen können. Was diesen Wandel so einzigartig macht, ist die immer dichtere Vernetzung von immer mehr Lebensbereichen, die eine Dynamik eines sich selbst beschleunigenden Wandels zur Folge hat.

Aber gab es Wandel nicht auch in früheren Zeiten?
Ja, es gab regelmäßig Transformationsepochen, die mit unserer Zeit erstaunliche Ähnlichkeiten haben. Sie traten jedoch nicht so stark ins Bewusstsein der Menschen, weil sie jeweils drei bis vier Generationen überspannten, so dass sich die Jüngeren daran jeweils nicht mehr erinnern können. Nur wenige interessieren sich für Geschichte so gründlich, dass ihnen diese Transformationen als Ganzes bewusst wären.

Was folgt aus dieser Transformation?
Was wir heute daraus machen, ob es eine soziale Katastrophe gibt oder ein neues Wirtschaftswunder, hängt maßgeblich von unserem eigenen Handeln ab. Ich gratuliere Führungskräften der Wirtschaft und aller anderen Gesellschaftsbereiche, die die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt haben und mental und methodisch auf diese Transformation vorbereitet sind. Denn selten findet unternehmerische und politische Gestaltungskraft mehr Anwendungsfelder als in den nächsten zehn Jahren.

Was müssen Führungskräfte können, um diese Herausforderung zu meistern?
Um die Gestaltungsmöglichkeiten erfolgreich zu nutzen, genügen die bisherige Wissensbasis und die darauf beruhenden Denkweisen, Methoden und Lösungen nicht mehr. Die Wirtschaftswissenschaften allein reichen heute nicht mehr, um Organisationen in der heutigen Dynamik zu gestalten und zu führen, sondern dafür braucht man die Komplexitätswissenschaften.

Was verstehen Sie darunter?
Man muss hier zunächst einmal zwischen den Begriffen „kompliziert“ und „komplex“ unterscheiden. Kompliziertheit ist eine Bedrohung. In der Komplexität hingegen liegen enorme Chancen, die man schnell und zuverlässig mit dem enormen Wissen aus den drei Komplexitätswissenschaften Systemik, Kybernetik und Bionik erkennt. Diese Wissenschaften zeigen uns, wie Organisationen unter allen Bedingungen zuverlässig funktionieren. Aus der Biologie wissen wir, dass alle höheren Fähigkeiten eines Systems aus mehr Komplexität entstehen – und eben nicht aus ihrer Reduktion.

Dinge einfach zu halten, ist also nicht unbedingt ein Erfolgsrezept?
Nein, denn Komplexität ist der Rohstoff für Information, für Kommunikation und für Intelligenz. Komplexität ist Vielfalt; sie führt von der Welt der Tatsachen in die weit größere Welt der Möglichkeiten. Sie eröffnet das Spektrum für Optionen, für Kreativität und für Innovation.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die im Auftrag ihrer Mandanten in der Komplexität nach handhabbaren Strukturen suchen?
Täten solche Unternehmen dies mit den herkömmlichen Denkweisen und Mitteln, dann verzögerten sie eher die nötigen Anpassungen und behinderten neue Lösungen. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften werden daher ihren Mandanten dabei helfen müssen, die bisherigen Systeme für Rechnungswesen und Controlling grundlegend zu reformieren. Denn diese können heute viele der Informationen für die nötigen Anpassungen gar nicht in dem Maße abbilden, wie es jetzt nötig ist. Und auch die heutigen Corporate-Governance-Systeme müssen grundlegend reformiert werden. Strategien, Strukturen, Kulturen und Informationssysteme, Prozesse der Meinungs- sowie der Konsensbildung, des Entscheidens und Umsetzens müssen vollkommen neu gestaltet werden. Die Bereiche Consulting, Coaching, Personalvermittlung oder Executive Search spielen eine Schlüsselrolle für das Meistern der Transformation. Aber dafür müssen sie auch selbst neue Wege gehen: Viele haben ihre bisherigen Erfolge mit Lösungen für die alte Welt erzielt – und davon wegzukommen, ist nicht einfach.

Wie kann sich ein Absolvent der Wirtschaftswissenschaften auf die Gegebenheiten der neuen Unternehmens- und Wirtschaftswelt vorbereiten?
Bereits vorhandenes Wissen muss ergänzt werden. Das bedeutet nicht zwangsläufig viel Arbeits- und Zeitaufwand: Trifft man die richtige Auswahl von Informationsquellen, dann geht das relativ schnell. Man braucht Grundkenntnisse über die erwähnten Komplexitätswissenschaften, denn wirksames Management bedeutet im Kern das Meistern von Komplexität, von Vernetzung und von Dynamik. Vor allem sollten Nachwuchskräfte die zum Teil revolutionären system-kybernetischen Tools und Methoden kennen, einige davon kann man in kurzer Zeit erlernen.

Was für Tools und Methoden sind das?
Wir arbeiten schon lange bei der Ausbildung von Managern mit „Denk-Werkzeugen“ für den Umgang mit Komplexität, ohne dass sich die Führungskräfte lange mit Theorie befassen müssen. Innerhalb von wenigen Stunden kann man seine Wahrnehmung für Komplexität schärfen und eine Basis für ihre Beherrschung gewinnen. Dieses Lernen erfolgt nicht mehr wie in der herkömmlichen Schulklasse, sondern ist Teil der Anwendungswirklichkeit. Es entspricht dem Lernen dieser Neuen Welt.