Naturwissenschaftler: Ran an die neuen Ideen

Foto: Fotolia/Konstantin Yuganov
Foto: Fotolia/Konstantin Yuganov

Intelligente Tinte warnt vor falsch gelagerten Medikamenten, Pillen kommen aus dem 3D-Drucker, clever verknüpfte Daten bringen neue Erkenntnisse: Die Branchen, in denen Naturwissenschaftler beste Einstiegschancen besitzen, sind von digitalen Innovationen geprägt. Damit diese entwickelt werden, setzen die Unternehmen auf eine offene und grenzüberschreitende Innovationskultur. Die Zeit, als Forschung und Entwicklung zumeist hinter verschlossenen Türen passierte, ist vorbei. Von André Boße

Man hat sich daran gewöhnt, dass im digitalen Zeitalter immer mehr Geräte intelligent daherkommen. Handys sind längst smart, die Autos werden immer autonomer. Es gibt kluge Kühlschränke und Maschinen, die miteinander kommunizieren. Aber intelligente Tinte? Das überrascht dann doch. Gemeint ist damit keine Geheimtinte, mit der Jungs und Mädchen im Kinderzimmer Detektiv spielen. Diese intelligente Tinte übernimmt eine wichtige Aufgabe:

Durch ihre Farbe zeigt sie an, ob ein Medikament richtig gelagert ist oder ob äußere Einflüsse wie Licht, Temperatur oder Feuchtigkeit die Qualität des Stoffs negativ beeinflussen. Die Innovation hilft also dabei, die Wirksamkeit sensibler Präparate durch korrekte Lagerung zu garantieren. Entwickelt hat die intelligente Tinte die junge Physikerin Dr. Marta Canas-Ventura, die beim Spezialchemie-Konzern Evonik als Geschäftsentwicklerin tätig ist. Für ihre Idee gewann sie in diesem Sommer den „Entrepreneurship-Award“, den ihr Arbeitgeber ausgerufen hatte.

Von der offenen zur Cross-Border-Innovation

Eine offene Innovationskultur ist heute Bedingung, wenn ein Unternehmen erfolgreich forschen und entwickeln möchte. Ein Schritt weiter geht der Ansatz der Cross-Border-Innovation: Ziel ist eine intensive Vernetzung von Branchen und Bereichen. „Immer mehr Unternehmen arbeiten mit Start-ups zusammen. Hier werden je nach Bedarf verschiedene Modelle praktiziert: Entwicklungskooperationen, Kunden-Lieferanten-Beziehungen und oftmals auch Investments in der Seed-Runde oder in späteren Phasen“, sagt Dr. Michael Brandkamp, Geschäftsführer des High-Tech Gründerfonds, der schon in frühen Phasen in technologisch-naturwissenschaftliche Start-ups investiert, unter anderem in den Branchen
Pharma und Chemie.

Die junge Naturwissenschaftlerin bekommt nun ein Jahr Zeit, um die Idee zur Marktreife zu bringen. Das Unternehmen unterstützt die Forschung und Geschäftsentwicklung mit 200.000 Euro; Marta Canas-Ventura fungiert in den kommenden zwölf Monaten also als eigene „Unternehmerin im Unternehmen“, wie es Klaus Engel, Vorstandsvorsitzender von Evonik Industries bezeichnete:„Für Innovationen brauchen wir kreative und mutige Mitarbeiter mit Unternehmergeist, die auch einmal Rückschläge wegstecken können, und ihre Idee mit Engagement, Leidenschaft und Durchhaltevermögen zum Erfolg bringen.“

Vorbereitet wurde die Idee der Physikerin im „Global Ideation Jam“, wie der Ideenwettstreit bei Evonik heißt. Aus 84 Vorschlägen wurden sechs ausgewählt, die Finalisten entwickelten in einem Workshop die Ideen zu echten Geschäftsmodellen weiter, Businessplan inklusive. Unterstützt wurden sie dabei von Experten, von Naturwissenschaftlern, aber auch BWL- oder IT-Profis.

Innovation: offen und grenzüberschreitend

Der Weg von Evonik zeigt, wohin die Innovationskultur in den naturwissenschaftlich geprägten Zukunftsbranchen geht. Ob Pharma oder Chemie: Die Konzerne sind auf Innovationen ihrer Forscher und Entwickler angewiesen, und sie gehen neue Wege, das Potenzial ihrer Mitarbeiter zu nutzen. Vorbei die Zeit, als Forschung und Entwicklung zumeist hinter verschlossenen Türen passierte. „Innovation bedeutet für uns auch Kooperation“, sagt Prof. Dr. Georg Oenbrink, Chemiker und bei Evonik Leiter der Abteilung Innovation Networks & Communications.

„Open Innovation“ nennt man dieses Konzept: Die Innovationskultur öffnet sich, wird transparent. Die „Cross-Border-Innovation“ geht noch einen Schritt weiter: Man sucht Partner, legt Wert auf einen gut organisierten Wissenstransfer – auch aus dem Unternehmen heraus. Firmen, die Innovation offen und grenzüberschreitend denken, kooperieren auf internationaler Ebene mit Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Unternehmen.

„Nur so kann es uns gelingen, neueste Erkenntnisse aus der Chemie, Biologie oder Physik schnell in den Konzern zu übertragen“, sagt Oenbrink. Um Netzwerke mit internationalen Spitzenforschern zu stärken, veranstaltet Evonik in Deutschland, China, Japan und den USA regelmäßige Foren. Hinzu kommen Aktivitäten im Bereich Corporate-Venture-Capital:

„Wir investieren gezielt in für unser Unternehmen interessante spezialisierte Technologiefonds und Start-ups. So erhalten wir in frühen Entwicklungsphasen Einblicke in innovative Technologien und Geschäfte.“ Klingt gut, aber das Konzept der offenen Innovation bringt ein Problem mit sich:Wenn alles transparent ist, besteht dann nicht die Gefahr, dass Ideen geklaut werden? Oder dass der Innovationsprozess schon früh ins Stocken gerät, weil zu viele Bedenkenträger Einblick erhalten und ihre Vorbehalte äußern?

Bei Evonik stimmt man zu, dass man bei den Kooperationen mit Bedacht vorgehen muss. Oenbrink: „Dazu bedarf es offener Kommunikation, einer sorgfältigen Bestimmung der Risiken, Vertraulichkeit sowie einer vertraglichen Klärung im Hinblick auf die jeweiligen Rechte. Mit Transparenz auf allen Seiten kann man Vorbehalten am besten begegnen.“

Pillen aus dem 3D-Drucker

Zahnschiene aus dem 3D-Drucker – für 60 Dollar
Nicht sichtbare Zahnschienen sind wahn-sinnig teuer. Dass es auch anders geht, zeigte der 23 Jahre alte Student Amos Dudley aus New Jersey. Mithilfe von Material im Wert von 60 Dollar und dem 3D-Drucker seiner Hochschule fertigte er zunächst ein 3D-Modell seines Gebis-ses an, aus dem er dann eine genau für seinen Kiefer angepasste durchsichtige Schiene produzierte. In seinem Blog zeigt der angehende 3D-Designer, wie er das gemacht hat – und gibt der Gesundheits-branche ein perfektes Beispiel für das Potenzial des 3D-Drucks, individuelle Hil-fen passgenau und günstig herzustellen. www.amosdudley.com/weblog/Ortho

Implantate zum Selbermachen
Noch einen Schritt weiter geht der Physi-ker und Biohacker Andrew Pelling, der an der Universität Ottawa an Zellen forscht. Im Wired-Interview erklärt er „wie man sie manipulieren, in fremde Umgebungen stecken oder umfunktionieren kann. Oder auch: wie man ohne Gentechnik eine menschenfressende sprechende Pflanze zum Leben erweckt oder wie man Obst und Gemüse nutzen kann, um Organe zu züchten und warum er glaubt, dass wir bald alle an unseren eigenen Gesichtern herumbasteln. Was abwegig klingt, hält Pelling längst für machbar“.
Quelle: www.wired.de

Wie wichtig Innovationen für die Branchen mit großem Bedarf an Naturwissenschaftlern sind, zeigt der Megatrend Digitalisierung. Die neuesten Entwicklungen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz verschaffen den Unternehmen eine Vielzahl an Möglichkeiten, von denen sie noch vor zehn Jahren nicht zu träumen gewagt haben. Ein zentrales Tool ist dabei der 3D-Druck. In einem Internetforum für Pharmaberater scherzen einige Kollegen über diese Methode: Die Pillen aus einem solchen Drucker müssten dann ja wohl sehr flach sein, heißt es, aus Esspapier wahrscheinlich.

Wer als Naturwissenschaftler eine Karriere im Bereich der Pharmaberatung oder der Pharmaindustrie anstrebt, sollte das Potenzial des 3D-Drucks jedoch auf keinen Fall belächeln. In den USA hat bereits vor gut einem Jahr die erste Pille die Zulassung erhalten, die mit einem 3D-Printer hergestellt wurde. Ein indisches Unternehmen kündigte Anfang des Jahres an, mithilfe eines 3D-Druckers Lebergewebe produzieren zu können, das Pharmaunternehmen zu Testzwecken dienen kann.

Der Vorteil der 3D-Druckmethode: Dank der durchgehend digitalen Produktionskette können die Wirkstoffe der Präparate individuell eingestellt werden. Zudem erlaubt die Technik neue Formen der Medikamentenproduktion: Die 3D-Drucker-Pille aus den USA, ein Mittel gegen epileptische Anfälle, besitzt zum Beispiel eine deutlich höhere Wirkstoffdosis als konventionell hergestellte Tabletten. Die Pille ist im Falle eines Anfalls also deutlich einfacher zu schlucken.

Für Patienten, die gravierende Probleme mit dem Schlucken haben, arbeiten Naturwissenschaftler der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf mithilfe des 3D-Drucks an einem sogenannten Smoothfood-Konzept, das Präparate entwickelt, die auch nach einem Schlaganfall oder von Patienten nach einer Tumorbehandlung im Hals- und Rachenraum problemlos eingenommen werden können.

Grenze zur IT verschwindet

Viele dieser Nachrichten über Innovationen kommen aus den USA oder Asien. Wie weit ist die deutsche Pharmaindustrie schon bei der Digitalisierung? Und was bedeutet das für Naturwissenschaftler, die in diesem bei Absolventen weiterhin sehr beliebten Bereich Karriere machen möchten? Isabel Richter beobachtet als Bereichsleiterin Health & Pharma beim deutschen Digitalverband Bitkom den Status quo der Branche. Ihr Urteil: „Die Digitalisierung birgt riesiges Potenzial für die Pharmaindustrie, und das haben die Pharmaunternehmen auch überwiegend erkannt.“

Zuletzt hat ihr Verband 100 Manager zur Digitalisierung befragt. Richter: „Demnach gehen die Befragten davon aus, dass Pharmaunternehmen künftig digitale Zusatzangebote entwickeln, etwa Apps, die bei der Medikamenteneinnahme unterstützen. Zudem werden sie sich verstärkt als Dienstleister für die Auswertung von Gesundheitsdaten engagieren.“ Fast alle befragten Pharmamanager sehen die Digitalisierung als Chance, rund drei Viertel besitzen schon eine Strategie, um den digitalen Wandel zu bewältigen.

„Unserer Einschätzung nach müssen digitale Innovationen aber noch schneller in die Praxis umgesetzt werden“, fordert Isabel Richter. Sonst drohe die Gefahr, dass die deutsche Branche von der internationalen Konkurrenz ein- und überholt werde. „Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Digitale Innovationen können innerhalb kürzester Zeit komplette Märkte umkrempeln. Deshalb sollten die Unternehmen den digitalen Wandel entschlossen weiterverfolgen.“

Je wichtiger digitale Innovationen werden, desto stärker greifen sie auch in die Personalstruktur der forschenden Unternehmen ein.„Fachkräfte mit IT-Kenntnissen werden in Pharmaunternehmen – wie fast überall – insgesamt immer wichtiger“, sagt Isabel Richter. Weil diese in Deutschland nicht in benötigter Anzahl zur Verfügung stehen, betrachten viele Unternehmen den „Fachkräftemangel als Innovationshemmnis“, wie die Bitkom-Expertin durch die Branchenbefragung heraus-gefunden hat.

„Da sich die Grenzen zwischen Naturwissenschaften und IT immer stärker auflösen, braucht die Pharmabranche künftig Personal, das Kompetenzen aus beiden Bereichen vereint. Es muss selbstverständlich sein, dass der Mikrobiologe auch Kenntnisse der Datenanalyse mitbringt.“ Genau hier setzen Hybridstudiengänge in der universitären Ausbildung an. Die gibt es – aber noch zu wenig, wie Richter sagt: „Von denen werden wir in Zukunft viel mehr brauchen.“

Hybrid-Studiengang: Naturwissenschaftliche Informatik

Zunächst war der Computer für Naturwissenschaftler nur ein Hilfsmittel. Heute sind Rechner das zentrale Werkzeug, um Experimente zu steuern und die gewonnenen Daten zu analy-sieren. In der Arbeitswelt treffen Natur-wissenschaftler auf Unternehmen, die IT-basierte Innovationen wünschen und die Grenze zwischen Naturwissenschaft und IT auflösen. Derzeit bieten drei Unis in Deutschland das Fach Naturwissen-schaftliche Informatik an: Die Uni Bielefeld (Bachelor und Master), die Uni Mainz
(Master) sowie die TU Berlin als Bachelor-Studiengang mit dem Titel Naturwissen-schaften in der Informationsgesellschaft.