Bio trifft Digital

Foto: Fotolia/ Ravil Sayfullin
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Pillen aus dem Drucker, Big Data in der Forschung und Bio-Tech-Boom: Die Pharma-Branche profitiert schon heute von neuen technischen Entwicklungen, in naher Zukunft werden sich weitere Potenziale ergeben. Diese zu nutzen, ist Aufgabe der Pharma-Unternehmen und ihrer Mitarbeiter. Damit das funktioniert, müssen Mitarbeiter erkennen, wie sehr die Technik zum Enabler dieser Branche wird – und wie weitreichend der Kulturwandel sein wird. Das zeigt unser Blick auf zwei große Pharma-Trends: die Digitalisierung und die Biopharmazeutika. Von André Boße

Als digitale Transformation bezeichnet man die Eingliederung der neuen digitalen Möglichkeiten in die Prozesse eines Unternehmens. In vielen Branchen geschieht dies eher versteckt, der Kunde bekommt gar nicht mit, dass sein neuer Kühlschrank auch mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz hergestellt wurde. In der Pharma-Industrie ist das anders: Viele der neuen Techniken werden für die Patienten sehr direkt erlebbar. So kommen neue Präparate auf den Markt, die für ganz neue Therapieansätze stehen oder in geringen Stückzahlen beinahe individuell für einen Patienten hergestellt werden. Die zwei Pharma-Trends Digitalisierung und Biopharmazeutika versprechen Wachstum und neue Job-Profile. Jedoch kommt es für die Unternehmen und ihre Mitarbeiter darauf an, einen Kulturwandel zuzulassen: Die Veränderungen bekommen nämlich nicht nur auf positive Art und Weise die Patienten zu spüren, sondern alle, die in der Pharma-Industrie tätig sind.

Trend Digitalisierung

Schon vor zwei Jahren stellten die Pharma-Experten der Unternehmensberatung Bearing Point im Rahmen einer Studie fest, dass es sich bei der Digitalisierung in der Pharma-Industrie um einen Zukunftstrend, aber auch um eine Prozessbaustelle handelte: Vor allem die mangelnden digitalen Talente stellten eine Herausforderung für die Pharma-Unternehmen dar, hieß es in der Zusammenfassung einer Umfrage unter mehr als 100 Branchenprofis. Dieses Problem ist für die Pharma-Industrie auch heute noch aktuell, wie Marcel Müller, Senior Manager und Pharma-Experte bei Bearing Point sagt: „Die Digitalisierung erreicht die Pharma-Industrie in zunehmenden Maße, bei Weitem jedoch nicht in gleicher Geschwindigkeit wie in anderen Industrien.“

Big Data in der Pharmazie

Die Gesamtheit aller gewonnenen biologischen Datensätze aus Genom, Transkriptom, Proteom, Metabolom und allen weiteren „omen” sowie deren Kombination mit anderen patientenspezifischen Informationen wird „Panomics“ genannt. Es entstehen riesige Datensätze, die – mithilfe neuer Big-Data-Software analysiert – wertvolle Informationen geben können, heißt es in einer Mitteilung des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Gerade im Bereich der Onkologie sei die Kenntnis der molekularen Signatur der Tumorzellen von großer Bedeutung. „Die modernen Sequenziermethoden ermöglichen die Aufdeckung der molekularen Veränderungen, die dem jeweiligen Tumor zugrunde liegen und können in der Präzisionsonkologie für die Bestimmung der bestmöglichen Therapie genutzt werden“, heißt es im vfa-Papier.

Grund dafür sei weiterhin, dass die Digitalisierung in der Branche mit einem durchdringenden Kulturwandel einhergehe, den viele Unternehmen nicht mutig genug vollziehen würden. Digitalisierung steht für neue Formen der Kooperation, für ein effektives und intensives Wissensmanagement sowie eine stärkere Innovationskraft – und überall hier gebe es Nachholbedarf, wobei bestimmte Bereiche in den Pharma-Unternehmen weiter seien als andere, wie Marcel Müller sagt. „Vertrieb, Customer Services oder Customer Relation Management weisen einen vergleichsweise höheren Reifegrad aus, dagegen gibt es in den Bereichen Produktion, Logistik und Labor noch Verbesserungspotenzial.“

Das überrascht, denn gerade in der Fabrik und in der Forschung ergeben sich im Zuge der Digitalisierung riesige Potenziale: „3-D-Druck und Künstliche Intelligenz mithilfe des Deep-Learning- Verfahrens bedeuten für die Pharma- Industrie fundamentale Veränderungsprozesse“, sagt Marcel Müller von Bearing Point. Seit 2016 sind zum Beispiel in den USA die ersten Tabletten aus dem 3-D-Drucker zugelassen, es handelt sich um spezielle Präparate für an Epilepsie leidende Patienten, die Pillen lassen sich durch ihre besondere Beschaffenheit auch bei heftigen epileptischen Anfällen schlucken.

Noch handelt es sich um eine sehr spezielles Präparat, doch der 3-D-Druck erweist sich hier als effiziente Produktionsform: „Dadurch wird die Kostenstruktur an wichtigen Stellen verändert“, sagt Marcel Müller. Die Produktionsanlage ist wesentlich günstiger, die Durchlaufzeit geringer, das Portfolio der Produktion wird flexibler. Neue Verfahren mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz kommen insbesondere in der Forschung & Entwicklung zum Einsatz: Big Data und ein neues Informationsmanagement durch kollaborative Technologien, die einmal erarbeitetes Wissen zur Verfügung stellen, sorgen dafür, dass schneller und kostengünstiger geforscht werden kann.

Weil mit der Digitalen Transformation in der Pharma-Branche Kulturwandel einhergeht, beeinflusst die Technik auch die Personalstruktur und die Arbeitsprofile in den Unternehmen. Es entstehen neue Jobs, viele davon befinden sich an den Schnittstellen zur IT. Aber auch in der Marktanalyse oder Trendforschung gibt es neue Tätigkeitsfelder, schließlich komme es darauf an, herauszubekommen, wie sich die neuen digitalen Möglichkeiten tatsächlich gewinnbringend und im Sinne der Patienten anwenden lassen. „Die jeweilige technische Erneuerung muss schon mit zu einer Geschäftsstrategie passen“, sagt Marcel Müller. Sonst werde die digitale Transformation zum Selbstzweck – und das nützt niemandem etwas.

McKinsey-Studie: Pharma muss Produktivität neu denken

Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey aus dem November 2016 untersucht, warum Pharma-Unternehmen trotz vieler Bemühungen ihre Produktivität nicht signifikant erhöht haben. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass traditionelle Maßnahmen wie Effizienz in der Produktion oder die Eroberung neuer Märkte nicht mehr die erwünschten Erfolge bringen. Bedeutsam seien daher weitere Investitionen in den Bereich Forschung & Entwicklung: „Neue Analyseverfahren erhöhen die Effizienz, neue Technologien aus den Bereichen Immun-Okologie oder Genom-Editierung bieten Wachstumschancen, Kooperationen mit Start-ups oder anderen externen Partnern erhöhen die Chance für Innovationen.“

Einsteigern empfiehlt der Pharma- Experte von Bearing Point, ein Grundverständnis für die digitalen Technologien mitzubringen – auch für Neuerungen wie Smart Glasses oder Augmented Reality, die in den Pharma-Unternehmen nicht nur Spielereien, sondern die Arbeitswerkzeuge der nahen Zukunft sind. „Entscheidend kommt es für Nachwuchskräfte darauf an, zu erkennen, dass die Technologie als Enabler eine immer größere Rolle spielen wird“, sagt Marcel Müller. Pharma werde in Zukunft stark von den Neuerungen der Digitalisierung profitieren – und viele der Innovationen werden für die Patienten direkt erfahrbar sein. Von der individualisierten Tablette aus dem 3-D-Drucker bis hin zu neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, die sich aus der Kooperation von Forschern, Pharma- Vertrieblern und Künstlicher Intelligenz ergeben: Es gibt viel Neues zu entdecken und zu entwickeln, der Mut zur Digitalisierung wird sich für die Branche und ihre Mitarbeiter auszahlen.

Trend Biopharmazeutika

Unter dem Begriff der Biopharmazeutika fasst man Arzneimittel und Impfstoffe zusammen, deren Wirkstoffe mithilfe gentechnisch veränderter Organismen hergestellt werden. Die Produktion dieser Stoffe ist technisch aufwendig, die Hersteller müssen viel Know-how in die Forschung und Entwicklung investieren. Doch das lohnt sich zunehmend, wie der Report „Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2017“ der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) zeigt, der im Sommer 2017 veröffentlicht wurde:

Der Umsatz mit Biopharmazeutika erhöhte sich demnach in Deutschland gegenüber 2015 um 12,4 Prozent auf rund 9,3 Milliarden Euro. Damit hat diese Branche mittlerweile einen Anteil am Umsatz des gesamten Pharma-Marktes von 24,8 Prozent – jeder vierte Euro wird also bereits mit Biopharmazeutika umgesetzt. Hier zeigt sich: Dies ist kein Markt ausschließlich für morgen, sondern schon heute ein Treiber für Wachstum.

Report der Boston Consulting Group (BCG) „Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2017“

Im BCG-Report heißt es, zum Beispiel sei es sinnvoll, in den Pharma-Unternehmen schnelle Entscheidungsfindungen zu etablieren: „Der Zeitraum von Antrag bis Projektbeginn sollte in diesem von Wettbewerb geprägten Forschungsumfeld angemessen kurz sein“, sagt Studienautor Jürgen Lücke, BCG-Senior Partner und Leiter der Praxigruppe Health Care. Zudem fordert er einen „Austausch über Köpfe, zum Beispiel, indem die Branche die Ausbildungs- und Beschäftigungssysteme zwischen akademischer Welt und Industrie durchlässiger macht sowie die Vernetzung von Forschung, Ärzten und Wissenschaft ausbaut.“

Entsprechend wächst die Bedeutung am Arbeitsmarkt: 44.100 Mitarbeiter sind im Bereich der Biopharmazeutika beschäftigt, das sind 8,1 Prozent mehr als im Vergleichsjahr 2015. Unter den insgesamt 38 im Jahr 2016 neu zugelassenen Arzneimitteln finden sich 14 Biopharmazeutika – das sind mehr als ein Drittel aller Neuzulassungen, so hoch war der Anteil noch nie. Und noch ein Vergleich: Insgesamt sind in der Pharma-Produktion etwas über 114.000 Mitarbeiter beschäftigt, der Anteil der Mitarbeiter in der Herstellung von Biopharmazeutika nähert sich langsam aber sicher einem Anteil nahe 50 Prozent.

Es wird offensichtlich: Die Biotech-Bereiche in der Pharma-Branche sind forschungsintensiv, daher werden hier auch überproportional mehr Experten benötigt. „Das Wachstum reflektiert, dass Biopharmazeutika immer mehr Patienten mit meist sehr schweren Krankheiten eine Therapie ermöglichen“, sagt Dr. Frank Mathias, CEO von Rentschler Biotechnologie sowie Vorsitzender von vfa bio, der Interessensgruppe Biotechnologie des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). „Die Branche legt ihren Schwerpunkt daher weiterhin darauf, neuartige medizinische Lösungen durch Originalpräparate zu schaffen.“ Insgesamt gebe es 636 biopharmazeutische Entwicklungsprojekte in allen Phasen der klinischen Erprobung – entsprechend hoch ist der Bedarf an forschendem Nachwuchs.

Der große Wachstumstreiber ist der Bereich der Onkologie: Der Umsatz bei der Forschung nach neuen Wirkstoffen gegen Krebs stieg von 2015 auf 2016 um fast 25 Prozent, fast ein Viertel aller Umsätze werden mit Biopharmazeutika aus diesem medizinischen Bereich erzielt. In den vergangenen zehn Jahren haben Pharma-Unternehmen 19 Biopharmazeutika gegen Krebs durch die Zulassung gebracht. Die meisten davon sind zielgerichtete Krebsmedikamente: Während in der Chemotherapie alle teilungsaktiven Zellen angegriffen werden, gelingt es diesen Mitteln, vorrangig die Krebszellen zu treffen. Andere Biopharmazeutika in diesem Bereich sind sogenannte Immun-Onkologika: Medikamente, die das Immunsystem des Patienten in die Krebsbekämpfung einbeziehen. Biopharmazeutika werden die Krebstherapie auch künftig voranbringen – da sind sich die Autoren der Studie sicher. So führten die Unternehmen der medizinischen Biotechnologie derzeit insgesamt 264 fortgeschrittene Projekte für neue Biopharmazeutika gegen 37 verschiedene Krebserkrankungen durch.