IT sitzt am Steuer

Foto: Fotolia/Raimundas
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Im Zeitalter von Industrie 4.0 rücken IT-Experten in die Herzen der Industrieunternehmen vor. Mithilfe ihres Know-hows schenken sie den Firmen ungeahnte Möglichkeiten in der Produktion. Doch auch bekannte IT-Themen wie Sicherheit oder Stabilität verlieren deswegen keinesfalls an Bedeutung. Von André Boße

Industrie 4.0 steht für mehr als nur eine Entwicklung. Es ist die Bezeichnung für ein Sammelsurium an Möglichkeiten, die die Industrie auf ein neues Niveau heben können. Zum Beispiel steht Industrie 4.0 für digitalisierte Produktionsprozesse, das Internet der Dinge, 3-D-Drucker, virtuelle Realitäten und cyber-physikalische Systeme, in denen sich Software, Elektronik und Mechanik treffen. Schon bei diesen Begriffen wird deutlich, wie stark sich in Zukunft die Zuständigkeiten in den Fabriken verändern werden. IT wird nicht länger nur „gute Dienste“ tun. Sie wird sich einmischen und das Steuerrad übernehmen. Natürlich steigt damit die Nachfrage nach IT-Spezialisten in den Unternehmen. Und auch das Anforderungsprofil ändert sich: Der Informatiker ist in Zukunft mehr als der Verantwortliche dafür, dass alles rund läuft. Er bestimmt mit seinem Knowhow die Produktionsstrategie mit – und zwar im engen Austausch mit den Experten aus Fertigung, Vertrieb und Logistik. Kurz: Mit der Industrie 4.0 rückt die IT in das Herz eines jeden Unternehmens.

Was war vor Industrie 4.0?

Industrie 4.0 wird auch als vierte industrielle Revolution bezeichnet. Bis ins mittlere 18. Jahrhundert muss man zurückblicken, um die Umwandlungen der ersten industriellen Revolution zu erkennen: Vor allem in England entstanden die ersten Fabriken mit Maschinen. Begriffe wie Kapital, Unternehmertum oder Proletariat tauchten damals zum ersten Mal auf. Der Durchbruch der Elektrizität und das Aufkommen neuer Branchen wie der Chemieindustrie markiert die zweite industrielle Revolution Ende des 19. Jahrhunderts. Als dritte Revolution wird die Digitalisierung der Industrie bezeichnet, die in den 1980er-Jahren begann und sich spätestens 2002 manifestierte. Vor zwölf Jahren speicherten die Menschen nach einer Schätzung der US-Zeitschrift The Economist zum ersten Mal mehr Informationen digital als auf analogen Medien.

Neue Systeme, neue Chancen
Dabei ist der Schritt in die Industrie 4.0 kein Selbstzweck. Er ist nötig, weil sich in Deutschland zwei Entwicklungen abzeichnen: Erstens wird der Industriekunde immer anspruchsvoller. Er möchte individualisierte Produkte – und zwar schnell und kostengünstig. Dieses Bedürfnis formuliert er jedoch nicht aus einer Laune heraus. Die Produktion in den Industrieländern – und das ist der zweite Punkt – sucht nach neuen Konzepten, um sich gegen die globale Konkurrenz zu behaupten.

Da die Informationsstrukturen in den bisherigen Fabriken zu langsam und zu teuer sind, müssen neue Systeme her. Nur intelligente Fabriken sind in der Lage, den hohen Ansprüchen der Kunden gerecht zu werden. Sie bringen die Industrie einen großen Schritt nach vorne, indem sie IT-Know-how in die Produktionsprozesse einbringen. Dieser Wandel ist zwingend notwendig, weil die Produktion im Zuge der Industrie 4.0 deutlich an Komplexität zulegt: Wenn schnell, individuell und effizient produziert werden soll, und zwar ohne Einbußen bei der Qualität, dann geht das nicht durch Zauberhand. Dafür werden IT-Systeme gebraucht, die in Sekundenbruchteilen entscheiden und modifizieren – und das im ständigen Kontakt mit allen Komponenten der Anlage.

Hindernisse überwinden
Mit Blick auf die Industrie 4.0 muss sich also in den Fertigungshallen der Unternehmen Einiges tun. Dass Veränderungen in diesem Bereich nicht immer einfach sind, weiß Rolf Adam, der bei Cisco Systems als Director Industry Sales unter anderem für den europäischen Markt verantwortlich ist. Bei vielen Industriekunden entdeckt er weiterhin Systeme und Maschinen, die nicht zukunftsfähig sind. „Viele Unternehmen zögern jedoch, diese zu ersetzen, da sie laufende Systeme nicht ändern wollen und die Investitionsund Einrichtungskosten fürchten. Hinzu kommt mangelndes Verständnis oder sogar Angst vor der neuen Technologie.“ Hier kommt es für IT-Experten darauf an, die richtigen Argumente für die Veränderung zu finden. Das funktioniert mit Blick auf die Kunden nur, wenn man sich als Informatiker in deren Lage versetzt.

Kein Wunder also, dass die großen IT-Unternehmen mit Blick auf das Geschäftsfeld Industrie 4.0 auf Nachwuchskräfte setzen, die den Spagat zwischen IT und Produktion beherrschen. Schließlich haben sich Maschinenbauer bislang in der Regel nur wenig Gedanken über Software gemacht. Und umso intensiver müssen sie nun von IT-Experten in das Thema eingeführt werden. „Wir benötigen dafür Mitarbeiter, die das Geschäft unserer Kunden im Detail verstehen – und zwar nicht nur wie in der Vergangenheit von der Prozessseite her, sondern auch von der Produktseite“, sagt Georg Kube von SAP, der als Global Vice President für den Bereich Industrial Machinery & Components verantwortlich ist. Auch bei Cisco Systems bestimmen die Herausforderungen der Industrie 4.0 das Recruiting entscheidend mit. „Wir haben massiv in den Aufbau industriespezifischer Kompetenzen investiert“, sagt Rolf Adam. „Jedes Industriesegment spricht eine eigene Sprache und stellt spezifische Anforderungen, denen wir entsprechen müssen.“

IT und Produktion wachsen zusammen
Traditionell gibt es in den Unternehmen zwei Technologiewelten, die in weiten Bereichen voneinander getrennt sind. Da ist zum einen die IT, die mit Hilfe eines ERP-Systems – ERP steht für „Enterprise Resource Planing“ – alle unternehmerischen Abläufe plant und steuert. Zum anderen gibt es die „Operational Technology“ (OT), also die Fertigungssoftware, die zum Beispiel auf den Controllern der Maschinen läuft. „Die Kernfrage bei der Smart Factory ist, wie diese beiden Welten effizient zusammengebracht werden können“, sagt Georg Kube. Die Herausforderung liegt darin, die jeweiligen Stärken von IT und OT optimal aufeinander abzustimmen. Vor welchen Herausforderungen IT-Experten hier stehen, zeigt das Beispiel der Laufzeiten in den beiden Technologiewelten. Kube erklärt: „IT-Systeme haben zumeist eine Zeittaktung, die zwischen Tagen und Minuten liegt, sodass ein Mensch damit interagieren kann. Auf der OTSeite finden Sie jedoch Maschinen, die Prozesse im Bereich von Mikrosekunden ausführen.“ Wer die beiden Welten miteinander verzahnen will, muss also die verschiedenen Taktgeschwindigkeiten aufeinander abstimmen. „Hierin liegt ein erhebliches Potenzial für Effizienzgewinne.“

Moderne Anlagen: echt und virtuell
Während sich SAP auf die Bereitstellung von Software und deren Anwendung in den intelligenten Fabriken fokussiert, entwickelt der Automatisierungsspezialist ABB die für die Industrie 4.0 notwendigen neuen Anlagen. Dabei kommt es darauf an, „jedem physikalischen Objekt in einer Produktionsanlage auch ein Modell im Netz, also eine virtuelle Beschreibung, zuzuordnen“, erklärt Christian Zeidler, der als Manager im Bereich Industrial Software & Applications im ABB Forschungszentrum Ladenburg an den Anlagen der Zukunft arbeitet. Die Internettechnologien haben dann die Aufgabe, die einzelnen Komponenten miteinander zu vernetzen. Zeidler sagt: „Damit können reale Produktionsmittel direkt untereinander interagieren.“ Die konkreten Vorteile dieser neuen Technologie erarbeitet der Entwicklungsmanager in enger Kooperation mit seinen Kunden. Ein Beispiel aus der Zusammenarbeit mit Unternehmen aus der Chemiebranche: Für diese ist es wichtig, dass die Zeitspanne von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung bis hin zur Produktionsanlage möglichst kurz ist. Außerdem soll die Produktionsmenge flexibel mit der Nachfrage Schritt halten. Intelligente Fabriken mit einem „Internet der Dinge“ sind in der Lage, für diese Unternehmen neue Standards in der Produktion zu setzen.

Sicherheit im Fokus
Nicht wenige Branchen sehen also bereits die Vorteile der Industrie 4.0. Doch neben einer gewissen Trägheit gegenüber Veränderungen gibt es noch eine weitere wichtige Herausforderung, auf die IT-Experten bei ihren Gesprächen mit den Industriekunden treffen: das Thema Sicherheit. „Industrie- 4.0-Szenarien sind relativ sicher, solange sie sich innerhalb der Fabrik und damit hinter der Firewall abspielen“, sagt Christian Zeidler von ABB. Bei Systemen, die in der Cloud betrieben werden, seien die Anforderungen dagegen ungleich höher: „Wenn Sie zum Beispiel eine Kollaborationsplattform für diverse Fertigungsschritte in der Cloud nutzen, verlassen Sie mit Ihren Produktionsdaten die sicheren vier Wände Ihrer Fabrik und begeben sich in öffentliche oder halböffentliche Datenleitungen. Das stellt in der Tat eine Herausforderung an die Sicherheit dar, denn solche Datenleitungen sind angreifbar.“ Ziel der IT sei es demnach, Möglichkeiten zu finden, den Datenverkehr auch außerhalb der eigenen Firewall sicher zu gestalten. „Die Herausforderung besteht letztlich darin, die richtige Balance zwischen Sicherheit und Flexibilität zu finden“, erklärt Zeidler. Als eine weitere Gefahrenquelle im Bereich Security nennt Rolf Adam von Cisco Systems das geforderte Zusammenwachsen von IT und OT. „Zum Beispiel können Schadprogramme aus dem Office-Netz auf das Produktionsnetz übertragen werden. Deswegen muss man den möglichen Zugriff von zahlreichen Akteuren auf die Anlagen im Firmennetz beschränken und absichern.“

Industrie 4.0 ist Pionierarbeit
Doch auch wenn die Sicherheit gewährleistet ist, stellt die Industrie 4.0 Informatiker vor noch manch andere gedankliche Herausforderungen – eine Tatsache, die Jobs in diesem Bereich anspruchsvoll, aber auch spannend macht. In vielen Fällen leisten IT-Experten hier echte Pionierarbeit, schließlich ist die Vernetzung vielfach unerprobt. „Zum Beispiel bedarf das Zusammenspiel der miteinander verbundenen Maschinen und Geräte eine genaue Abstimmung sowie frühzeitige Tests, um das Risiko einer verspäteten Inbetriebnahme und deren finanzielle Folgen zu reduzieren“, fordert Christian Zeidler von ABB. „Diese Planung und Realisierung findet dabei häufig firmenübergreifend statt, wodurch Datenaustausch und Tests zusätzlich erschwert werden.“ Bei all dem wird deutlich: Der IT-Spezialist im Zeitalter von Industrie 4.0 ist weit mehr als ein Systemstabilisator. Seine Arbeit ist der notwendige Schlüssel dafür, die Chancen der vierten industriellen Revolution zu nutzen und die mit ihr einhergehenden Risiken einzudämmen. Ob als externer Dienstleister oder interner IT-Spezialist: In den Firmen nimmt er eine andere Position ein. Er bestimmt Strategien mit und erneuert Prozesse, die Einfluss auf beinahe alle Bereiche des Unternehmens haben. Kurz gesagt: Die Industrie 4.0 hat die IT im Herzen.

Industrie 4.0: Was muss man draufhaben?

Die befragten Industrie-4.0-Experten aus den Industrie- und IT-Unternehmen empfehlen Einsteigern, neben dem Informatikstudium für die IT-Grundlagen zusätzliche Industrie- und Ingenieurkenntnisse zu erwerben. Frühe Spezialisierungen, beispielsweise in Richtung Ingenieurinformatik, steigern die Chancen für einen erfolgreichen Karriereeinstieg.

Sinnvoll sind zudem Praktika in produzierenden Unternehmen sowie Fort- und Weiterbildungen. Bei Letzterem sollte es inhaltlich um die Ingenieurthemen Maschinenbau, Produktentwicklung sowie Fertigungs- und Automatisierungstechnik gehen.