„Uhren dressieren uns“

Interview mit Prof. Karlheinz Geißler, 59 Jahre, Zeitforscher und Autor

Prof. Karlheinz Geißler, Foto: Fotolia/Micheal Schenk
Prof. Karlheinz Geißler, Foto: Fotolia/Micheal Schenk

Das Interview führte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. rer. pol. Karlheinz Geißler, geboren 1944 in der Oberpfalz, studierte Philosophie, Ökonomie und Pädagogik in München. Er arbeitete kurz als Lehrer, ging dann als Forscher und Dozent zurück an die Hochschule und ist seit 1975 Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Seit 2006 ist er emeritiert. Geißler ist Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik,
Teilhaber des Zeitberatungsinstituts Timesandmore und Buchautor.

Herr Geißler, angenommen, ein Außerirdischer besucht unsere Erde und möchte von Ihnen wissen, was es mit der Zeit auf sich hat. Was wäre Ihre Antwort?
Ich würde sagen: „Zeit ist das, was man auf der Erde nicht hat.“ Wobei Zeit eine irdische Vorstellung ist. Daher käme ein Außerirdischer überhaupt nicht auf die Idee, diese Frage zu stellen.

Als Buchautor kennen Sie sicherlich Deadlines: Verlage geben Ihnen vor, bis wann sie spätestens das Manuskript benötigen. Wie gehen Sie mit solchen zeitlichen Vorschriften um?
In den allermeisten Fällen mache ich generell keine terminlichen Vereinbarungen. Ich lasse mir ungern von außen vorgeben, wie schnell ich arbeiten soll. Glücklicherweise bin ich in der Situation, dass meine Verlage sich darauf einlassen. Generell vereinbare ich so wenige Termine wie möglich, weil ich weiß, dass man mich damit unter Zeitdruck setzen kann – und ich mich dann wiederum auch selbst unter Zeitdruck setze. Das versuche ich, im Vorfeld zu vermeiden. Meine Gesundheit dankt es mir genauso wie meine Familie, da Termine die Laune verderben.

Man kann stundenlang über die Zeit als solche philosophieren. Andererseits treffen gerade Berufseinsteiger zu Beginn ihrer Karriere auf einen Zeitbegriff, der sehr stark mit ökonomischer Effizienz gekoppelt ist. Reden wir hier eigentlich von der gleichen Zeit?
Nein, wir reden häufig nicht von der gleichen Zeit. Da der Mensch keinen Zeitsinn besitzt, kann er die Zeit nicht auf direktem Wege erleben und erfahren. Er kann die Zeit nicht „pur“ erfassen und ist daher darauf angewiesen, es auf indirekte Art zu tun. Das wiederum bedeutet, dass das, was die Menschen Zeit nennen, immer auch eine Sache der Vorstellung, der Vereinbarung und der Abmachung ist. Eine dieser Vorstellungen ist zum Beispiel, dass man Zeit in Geld verrechnen könne. Es ist eine sehr erfolgreiche, mittlerweile sogar zu erfolgreiche Vorstellung. Bei der Erziehung, Bildung und persönlichen Weiterentwicklung zum Beispiel funktioniert diese Gleichung nicht, bei der Produktion von Büchsenfleisch funktioniert sie. Kurzum: Die Vorstellung, Zeit sei Geld, ist für die Ökonomie ein Segen, für die Lebenswelten jenseits der Ökonomie zuweilen ein Fluch.

Wie gelingt einem jungen Menschen zum Abschluss seines Studiums oder zu Beginn seiner Karriere ein erfolgreiches Zeitmanagement?
Managen lässt sich nur jene Zeit, die sich in Geld verrechnen lässt. Um was es bei der Arbeit und beim Studium geht, ist die produktive Balance unterschiedlicher Zeitansprüche. Es geht also immer um die Koordination verschiedener Zeiten: Die Zeitansprüche der Organisation, die Zeitansprüche der Arbeitsaufgabe, die Zeitansprüche der eigenen Zeitnatur – das heißt unseres Körpers –, die Zeitansprüche der sozialen Mitwelt, also von Familie und Freunden, sowie die eigenen Zeitansprüche. Alle diese Ansprüche gilt es erstens zu erkennen und zweitens zu koordinieren.

Wer Stress hat, neigt dazu, sich mit Uhren einzudecken, um möglichst keine Zeit zu verschwenden. Ist das eine wirksame Strategie?
Uhren sind Zeitmessgeräte, mit denen wir Ordnung in unser Leben bringen wollen. Es handelt sich jedoch um eine Ordnung, die nicht unserer eigenen Zeitnatur entspricht. Wenn wir Stress empfinden, ermahnen wir uns mit Hilfe der Uhren, uns nicht an unseren Körperzeiten, sondern an der Zeit der Uhr auszurichten. Die Uhrzeit gestaltet ja auch den Ablauf unseres Alltags: Kinder müssen um 7.30 Uhr in der Schule sein – ob sie dann überhaupt lernfähig sind, fragt keiner.

Das Gleiche gilt für feste Bürozeiten.
Genau. Die vielen Uhren und Zeitangaben dressieren uns. Alle Bürokratien – und dazu zählt die Schule genauso wie viele Arbeitsplätze – sind handlungsstrategisch umgesetzte Uhrzeit. Der Mensch wird nicht pünktlich geboren, er wird pünktlich gemacht – und zwar sein Leben lang. Zeitmanagement ist daher nichts anderes als Erziehung zur Uhrzeit für Erwachsene.

Von der Gleitzeit bis hin zum Sabbatical: Viele Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern eine flexiblere Gestaltung der Zeit an. Verbessert sich das Verhältnis zur Zeit?
Zweifelsohne sind Sabbaticals ein Fortschritt in der ökonomischen Zeitkultur. Ich wünschte mir aber eine größere Zeitvielfalt in den Betrieben, konkret: eine innerbetriebliche Pausenkultur, die auf die individuellen Bedürfnisse Rücksicht nimmt. Noch immer ist das Interesse in den Untenehmen gering, die Produktivität nicht beschleunigbarer Zeitformen – also Pausen, Wiederholungen, Warten oder das Gehen von Umwegen – zu erkennen und zu nutzen. Auch das Liegenlassen ist eine Produktivkraft. Hat nicht jeder schon einmal erlebt, dass sich nach der Rückkehr aus dem Urlaub drei Viertel der in dieser Zeit aufgelaufenen Mails bereits von selbst erledigt haben?

Buchtipp

Zuletzt erschienen:
Karlheinz Geißler: Enthetzt euch! Weniger Tempo – mehr Zeit.
Hirzel 2013. ISBN 978-3777623573. 19,80 Euro