Im Takt bleiben

Foto: Fotolia/U.P.images
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Haben Sie heute schon gesungen? Wenn ja: herzlichen Glückwunsch. Sie haben damit Körper und Seele Gutes getan. Denn Gesang ist ein Heilmittel. Er fördert die Gesundheit, mindert Stress und wird sogar in vielen Therapien eingesetzt. Von Dr. Christian Lehmann, Musikwissenschaftler und Biologe

iPod, Stereoanlage und Kaufhausbeschallung: Unsere Alltagsbeziehung zur Musik ist eher eine passive. Doch es gibt gute Gründe, selbst musikalisch aktiv zu werden. Singen steigert das Wohlbefinden, schafft soziale Kontakte, hält Stimme und Geist fit und stärkt sogar das Immunsystem.

„Musik brauche ich zum Abschalten.“ Wenn wir in diesem Zusammenhang von Musik sprechen, meinen wir etwas, was es erst seit kurzer Zeit gibt: ein professionell hergestelltes Produkt zum Hören und Mitnehmen. Unsere eigentliche Beziehung zu Melodie und Rhythmus jedoch wurzelt viel tiefer. Vor wenigen Jahren fand ein Archäologenteam in einer schwäbischen Höhle Bruchstücke einer Flöte, aus einem Vogelknochen geschnitzt und rund 35.000 Jahre alt. Unsere Vorfahren spielten also längst Flöte, als sie den Ackerbau oder das Rad erfanden. Gut möglich, dass musische Betätigung in unserer Geschichte so etwas wie ein Sprungbrett für Erfindergeist und Innovation war.

In seinem Buch Der genetische Notenschlüssel erklärt Christian Lehmann anschaulich, was Musik mit Biologie zu tun hat, warum wir bei manchen Liedern eine Gänsehaut bekommen, wie die moderne Medizin sich die Wirkungen der Musik zunutze macht und vieles mehr.
Christian Lehmann: Der genetische Notenschlüssel.
Herbig 2010. ISBN 978-3776626469. 19,95 Euro

Das kostengünstigste und zugleich gesündeste Musikinstrument tragen wir immer bei uns: die Stimme. Wer singt, steigert nicht nur das psychische Wohlbefinden, sondern verbessert auch die Sauerstoffversorgung von Körper und Gehirn. Eine Langzeitstudie der Uni Frankfurt zeigte, dass Schulkinder, die verstärkt musizieren, auch in anderen Fächern ihre Leistungen steigern und besser miteinander auskommen.

Nicht genug damit: Chorsingen stärkt die Immunabwehr und baut Stresshormone ab. Fazit aller einschlägigen Erkenntnisse: Selbermachen ist besser als Hören, und gemeinsam ist besser als allein – sowohl im Hinblick auf positive „Nebenwirkungen“ wie auf das subjektive Empfinden. Wenn wir gemeinsam „im Takt“ sind und den Zusammenklang mit anderen Stimmen wahrnehmen, kommt über die Ausschüttung von Glückshormonen ein körpereigenes Selbstbelohnungssystem in Gang und motiviert uns, gemeinsam bei der Sache zu bleiben.

Genügend Gründe also gerade für Berufstätige, den iPod gegen eine Chormappe einzutauschen – wenigstens ab und zu. Doch wo findet man Gelegenheit zum Singen außerhalb der Dusche – und welche Voraussetzungen muss man mitbringen? Entgegen manchen Befürchtungen wird in den meisten Laienchören weder Vorsingen noch perfektes Notenlesen verlangt. Chorsänger müssen nicht über Superstar-Qualitäten verfügen, sondern auf ihre natürliche Musikalität vertrauen und Lust darauf haben, sich mit ihrer Stimme auszudrücken – was auch im Beruf hilfreich ist.

In Deutschland gibt es schätzungsweise rund 50.000 Jugend-, Männer-, Frauen-, Kirchen-, Jazz- und klassische Chöre, in denen zwei bis drei Millionen Menschen singen. Einige Firmen und Institutionen haben sogar eigene Chöre gegründet. So gibt es nicht nur Polizeichöre (und -orchester), sondern auch einen Lufthansa-Chor und einen Mitarbeiterchor der Bayerischen Staatsbibliothek. In vielen Betrieben werden für einen bestimmten Anlass – zum Beispiel für die Weihnachtsfeier – Projektchöre auf die Beine gestellt. In den Proben steht die Abteilungsleiterin neben der Volontärin, denn beide singen die gleiche Stimme. Statusdifferenzen sind hier aufgehoben, denn die Aufgabenverteilung richtet sich allein nach der Stimmlage. Gespräche zwischen Mitarbeitern verschiedener Abteilungen ergeben sich von selbst – ein Projekt, das so manche teambildende Maßnahme überflüssig machen kann.

Oft hört man den Einwand: „Ich kann nicht singen.“ Doch so wie wir (fast) alle laufen und sprechen können, besitzen wir auch ein musikalisches Gehör. Angeborene oder erworbene Störungen sind selten. Die häufigste Schwierigkeit besteht in mangelnder Übung. Unsere Stimme setzen wir im Alltag nur in einem sehr begrenzten Tonumfang ein. Es lohnt sich, sie zu trainieren: Singen ist Fitnesstraining für die Stimme, schafft nicht nur Ausgleich zum Arbeitsalltag, sondern fördert die Entfaltung der ganzen Persönlichkeit. Wie kommt der Mensch zur Musik?

Lange bevor Babys Worte verstehen, horchen sie auf Melodien und auf den Klang der Stimme. Intuitiv singen Mütter in allen Erdteilen ihren Kindern Wiegenlieder vor. Unser Gehirn ist für die Verarbeitung von Melodie und Rhythmus speziell ausgerüstet. Musikalität gehört zur „biologischen Serienausstattung“ des Menschen – mit existenziellen Funktionen: Diese erkennen wir etwa im Fußballstadion, wenn Fans spontan zu einem Chor werden. Musik ist ein Stoff, aus dem emotionale Bande geknüpft werden. Er festigt die lebenswichtige Bindung zwischen Mutter und Baby ebenso wie den Zusammenhalt einer Gruppe, die „im Takt“ nicht nur Bewegungen, sondern auch Gefühle und Ziele synchronisiert. Höchstwahrscheinlich ist der Mensch ein guter Teamarbeiter geworden, weil er Rhythmusgefühl besitzt und in der Lage ist, Misstöne von Harmonie zu unterschieden. Es wird deutlich: Wir sind nicht nur als Hörer, sondern auch als Musiker geboren – ein Gedanke, der in einer Umwelt, die uns an vielen Orten Musik als Hintergrundgeräusch aufnötigt, neue Bedeutung erlangt.

Blickrichtung Gesang:

www.musiktherapie.de
www.deutscher-chorverband.de
www.singende-krankenhaeuser.de
Dorothee von Moreau (Hrsg): Musiktherapie in der präventiven Arbeit.
Reichert 2012. ISBN 978-3895008689. 18,00 Euro