Visionen für das Berufsleben: Sendboten aus der Zukunft

Foto: Fotolia/reachart777
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Wer sich auf die Suche nach Visionen begibt, muss sich auf Unbekanntes einlassen. Nicht nur Unternehmen können eine Vision für ihre Zukunft definieren – auch Absolventen tun gut daran, Visionen für ihr eigenes Berufsleben zu entdecken. Von Dr. phil. Christoph Quarch

Zur Person

Christoph Quarch, Foto: Nomi Baumgartl
Christoph Quarch, Foto: Nomi Baumgartl

Dr. phil. Christoph Quarch, geboren 1964 in Düsseldorf, ist freiberuflich als Autor, Berater, Seminarleiter und Dozent tätig. Er studierte Evangelische Theologie, Philosophie und Religionswissenschaften an den Universitäten von Heidelberg und Tübingen. Anschließend arbeitete er zunächst als Redakteur bei den Evangelischen Kommentaren in Stuttgart, dann als Studienleiter des Deutschen Evangelischen Kirchentags und ab 2006 zwei Jahre als Chefredakteur von »Publik-Forum«.

2011 gründete er das Magazin »Wir – Menschen im Wandel«. Heute arbeitet Quarch als Dozent an diversen Hochschulen, unter anderem an der Hamburg School for Business Administration (HSBA) und der Fachhochschule Fulda. Er ist Autor und Herausgeber von über 30 Büchern und lebt mit seiner Familie in Fulda.

www.christophquarch.de

Ein Mann braucht eine Vision. So dachten die nordamerikanischen Indianer und schickten ihre jungen Männer an der Schwelle zum Erwachsenwerden auf Visionssuche: allein, hinaus in die Wildnis, ohne Nahrung, ohne Schutz. Wenigstens vier Tage blieben sie dort. Denn solange braucht es erfahrungsgemäß, bis eine Vision sich einstellt, ein inneres Bild aufsteigt, eine Ahnung oder ein Wissen darum, wohin die Lebensreise gehen soll.

Eine Vision ist wie ein Leuchtfeuer, das Reisenden die Richtung weist. Sie gibt dem Leben Richtung, Sinn und Wert. Eben das braucht der Mensch, gerade in Phasen der Ungewissheit, des Umbruchs oder der Krise. Das gilt nicht nur für junge Indianer, sondern für jedermann. Und ebenso gilt es für Organisationen und Unternehmen. Auch sie brauchen ihren Leitstern, der ihnen in dunklen oder stürmischen Zeiten Orientierung schenkt. Auch sie brauchen Werte und Sinnperspektiven, aus denen sie Kraft und Energie beziehen. Auch sie brauchen Visionen.

[quote_center]“Wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen.“[/quote_center]

Von Altbundeskanzler Helmut Schmidt wird das Wort kolportiert, wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen. So mag es dem nüchternen Verstandesmenschen scheinen, der gerne alles im Griff und unter seiner Kontrolle hat. Visionen entziehen sich der Kalkulierbarkeit. Visionssuche ist immer eine Konversation mit dem Unbekannten.

Visionen stellen sich ein. Man kann sie nicht machen und erst recht nicht erzwingen. Aber man kann Räume für sie öffnen – eine Visionssuche, zum Beispiel. Denn ihr Zauber liegt darin, dass man mit ihnen beschenkt wird, wenn man ihnen die Ankunft erlaubt. Dann werden sie zu Sendboten aus der Zukunft, die Menschen und Unternehmen dazu ermutigen, in ihnen schlummernde Potenziale zu entfalten.

Einer, der das klar erkannt hat, ist der Aktionsforscher Otto Scharmer. Mit seiner „Theorie U“ hat er eine Theorie radikaler Transformationsprozesse vorgelegt, die davon ausgeht, dass Innovation nur dann erfolgreich stattfindet, wenn Menschen das Neue aus der Zukunft holen. „Es geht vor allem darum, gewohnte Wahrnehmungsformen aufzubrechen – raus aus der eigenen Sicht und rein in die Sicht der anderen“, erläutert Scharmer sein Ansinnen in einem Interview mit der Zeitschrift „Wir“. Bereits Gewusstes soll losgelassen werden, um nach und nach in einen Zustand der inneren Leere und Offenheit zu gleiten, aus dem das Neue hervorgehen wird – eine Dynamik, die sich durch die Linienführung eines U beschreiben lässt: Vom Bekannten hinunter in die Tiefe des Unbekannten und von dort wieder hinauf zu neuen Aktionen.

Auf diesen U-Weg schickt Scharmer – anders als die alten Indianer – niemanden für sich allein. Visionssuche ist für ihn ein Mannschaftssport, bei dem der Einzelne darauf angewiesen ist, gemeinsam mit Weggefährten auf die Pirsch zu gehen. So steht im Zentrum seines Verfahrens eine Praxis, die er ein „schöpferisches Zuhören“ nennt, bei dem es darum geht, alle eigenen Erwartungen, Wünsche und Interessen auszublenden, um sich ganz für das empfänglich zu halten, was einem als Vision aus der Zukunft entgegenkommt. Oft sind gerade die inneren Bilder am kraftvollsten, die so ganz anders sind als das, was man bis dahin meinte, erstreben zu müssen. Je origineller eine Vision, desto echter ist sie meist. Je mehr Mut sie einem abverlangt, desto besser.

Wer seiner Vision trotzdem folgt, wird rasch merken, dass Visionen motivieren und stimulieren. Ihr Aufleuchten gleicht dem Ereignis der Liebe, das von alters her ähnlich beschrieben wird. So kennt die Mythologie den Eros-Knaben, der seine Liebespfeile versendet und damit mancherlei Heil und Unheil stiftet – ein Bild, das eines zeigen soll: Wen der Pfeil des Eros trifft, den zieht er unweigerlich hin zum Geliebten: hin und weg, hingerissen. Das Gleiche leistet eine gute Vision. Wo sie am Horizont erscheint, geht von ihr ein Sog aus, der beflügelt und inspiriert. Wer „angemacht“ ist von ihr, gibt sein Bestes, um ihr zu entsprechen. Und ihn nährt eine Energie, die von der Vision ausgeht.

[quote_center]“Wer von einer Vision beseelt ist, brennt nicht so leicht aus.“[/quote_center]

Wer von einer Vision beseelt ist, brennt nicht so leicht aus. Gerade in Zeiten von Burnout und Depression sind Menschen gut beraten, sich auf Visionssuche zu begeben: sich aufzumachen, um Bilder und Worte für das zu finden, was ihnen sinnvoll und wertvoll erscheint – unabhängig von dem, was der ökonomische Zeitgeist gerade predigt. Wer sein Schiff gut durchs Meer der Zeit lenken will, braucht seinen Leitstern. Das können ethische Werte sein, es können konkrete Ziele sein, es kann ein gesellschaftlicher Nutzen sein – nur Zahlen sollten es nicht sein, denn Visionen lassen sich weder berechnen noch errechnen. Sie geschehen. Und wenn sie geschehen, dann müssen sie versprachlicht und gestaltet werden. Das erfordert Prozesse, in denen professionelle Hilfe sinnvoll sein kann.

Denn es braucht erprobte Wege, die es erlauben, eine Vision auf die Erde zu bringen. Besonders gilt dies bei der Visionssuche in Unternehmen, denn hier geht es darum, die Belegschaft mitzunehmen und einzustimmen. Letzteres ist von größter Bedeutung. Denn die Kraft einer Vision zeigt sich nicht nur darin, dass sie attraktiv ist und Menschen zu Innovation und Kreativität ermutigt. Sie zeigt sich auch nicht nur darin, dass sie brachliegende Potenziale und Leidenschaften freisetzt. Vor allem zeigt sie sich darin, dass sie Verbindung schafft.

Gute Visionen sind Adrenalin für das ganze Unternehmen. Denn wo viele Menschen eine Vision teilen, wird aus vielen für sich wuselnden Ichs ein kraftvolles, zielgerichtetes Wir. Visionen erzeugen Verbindlichkeit. Sie bündeln die Wünsche von Menschen und stimmen diese aufeinander ein. Synergien werden möglich, Co-Kreation findet statt. Alles Qualitäten, die für das erfolgreiche Arbeiten von morgen von größter Bedeutung sind.

Deshalb sind Young Professionals von heute gut beraten, nicht nur hinreißende Visionen für ihr eigenes Berufsleben zu erkunden, sondern sich auch nach Unternehmen umzuschauen, die ihre Visionen kennen und benennen. Wer die Wahl hat, ein Schiff für seinen Lebensweg zu wählen, wird im Zweifelsfall dasjenige nehmen, dessen Crew zu navigieren weiß – weil sie ihren Leitstern kennt.